Welt ALS-Tag 2025: Interview mit Carmen Ruesch und Michael Lang, Verein ALS Schweiz
500 bis 600 Schweizerinnen und Schweizer sind von ALS (Amyotrophe Lateralsklerose) betroffen. Die seltene und unheilbare Nervenkrankheit hat vor allem motorische Folgen für die Betroffenen: Ihre Mobilität wird im Verlauf der Krankheit immer stärker eingeschränkt. Für Betroffene bedeutet das die zunehmende Abhängigkeit von ihren Angehörigen. Der Verein ALS Schweiz und Carela bieten ergänzende Angebote für Betroffene und Angehörige. Im Interview erzählen uns Carmen Ruesch und Michael Lang von ALS Schweiz, auf was Betroffene und pflegende Angehörige achten müssen.
Können Sie etwas über Ihre Person, Ihre Erfahrung und Ihren persönlichen Bezug zu ALS sagen?
Frau Ruesch: Mein Name ist Carmen Ruesch, ich bin eidg. dipl. Beraterin im psychosozialen Bereich und seit 6 Jahren als Psychologische Beraterin in eigener Praxis in Solothurn tätig. Als Psychologische Beraterin, oder ich nenne es lieber Begleiterin, bin ich meistens mit Personen in der Krise konfrontiert. Einen persönlichen Bezug zu ALS hatte ich vor meiner Tätigkeit im Verein nicht. Was aber allen existenziellen oder gefühlt existenziellen Krisen gemein ist, ist die Verzweiflung und die Auseinandersetzung mit der Frage «wie weiter?». In diesem Kontext ist es für mich wichtig, Menschen in der Krise einen Raum zu bieten, in dem sie sich begleitet fühlen und der Ihnen die Möglichkeit eröffnet, in Kontakt zu treten mit einem Gegenüber, das bereit ist, sich interessiert und achtsam auf ihr Innenleben einzulassen. Dies ermöglicht es dem betroffenen Menschen, sich selbst zu reflektieren und auf eigene Lösungen zu kommen. Nicht für die Krankheit, die ist unheilbar. Aber für den Umgang damit.
Herr Lang: Ich bin Michael Lang, 57-jährig. Inzwischen habe ich zwei Jahrzehnte Erfahrungen als Pflegefachmann Psychiatrie und Somatik. Dann habe ich ein Studium der Sozialen Arbeit an der FHNW absolviert. Seit 2013 bin ich als Sozialarbeiter tätig und habe viel Erfahrung gesammelt, insbesondere in den Bereichen der Schuldenberatung, Opferhilfe, klinische Sozialarbeit, Psychiatrie und Somatik, Anthroposophische Medizin, Beratungsarbeit. CAS-Schuldenberatung und CAS-Sozialversicherungsrecht. Seit 2 Jahren arbeite ich für den Verein ALS Schweiz.
Was bedeutet ein Leben mit ALS für Betroffene?
Frau Ruesch: Leben mit ALS bedeutet für Betroffene zuerst einmal ein Schock. Der Schock, eine unheilbare Krankheit diagnostiziert zu bekommen. Der Umgang damit ist unterschiedlich. Was aber irgendwann immer kommt, ist die Herausforderung, sich den neuen Umständen anzupassen. Motorische Fähigkeiten nehmen ab, was die Selbständigkeit einschränkt. Die Betroffenen werden abhängig von Hilfsmitteln und/oder Angehörigen. Von Vielem muss Abschied genommen werden; Von Fähigkeiten, Zukunftsplänen, Hobbies, Aktivitäten etc. Die Liste ist lang. Beziehungen und Familienstrukturen müssen sich den neuen Umständen anpassen. Von allen Beteiligten muss viel Anpassungsleistung erbracht werden. Hinzu kommt die tatsächliche und emotionale Auseinandersetzung mit dem was kommt: Patientenverfügungen, Vorsorgeaufträge etc.
Herr Lang: Ich stimme Carmen hier zu. ALS ist für viele existenziell bedrohlich. Der Verlust von körperlichen, aber auch von geistigen Fähigkeiten ist eine enorme Belastung und eine grosse Herausforderung. Vor allem der Krankheitsbeginn mit der Diagnosestellung schlägt ein wie ein schweres Erdbeben.
Was bedeutet der Welt-ALS-Tag für Sie?
Herr Lang: ALS als seltene Erkrankung rückt durch diesen Tag in die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und wird mit vielen seiner Facetten sichtbar. Persönlich ist es mir ein grosses Anliegen, alle Aktionstage, die sich auf unheilbare Krankheiten beziehen, zu unterstützen.
Frau Ruesch: Genau, dieser Tag ist ein Tag, an dem breiter auf die Krankheit aufmerksam gemacht wird. Auch wenn sich für die Betroffenen nichts ändert, kann das Bewusstsein für ALS in der Gesellschaft gefördert werden. Es wird über ALS gesprochen und Informationen können fliessen. Wenn mehr Menschen wissen, was ALS ist und was es bedeutet, mit ALS zu leben, wächst das Verständnis für die Krankheit und die davon Betroffenen.
Gibt es Aspekte, welche die Beziehung zwischen ALS-Betroffenen und deren Angehörigen besonders belasten können?
Herr Lang: Meine konträre Erfahrung zeigt, dass es Beziehungen gibt, die trotz ALS gefestigt gemeinsam durch «dick- und dünn» gehen und das «Wir-Gefühl» gestärkt wird. Auf der anderen Seite zeigt sich diese lebensbedrohende Erkrankung mit den zunehmenden Verlusten der körperlichen, geistigen, sozialen und oft auch spirituellen Ebene oft als schwer oder kaum zu bewältigen.
Frau Ruesch: Hier möchte ich noch ergänzen, dass ALS-Betroffene Fertigkeiten verlieren, was sie zunehmend von der Unterstützung durch Angehörige abhängiger macht. Oft unterstützen und pflegen Angehörige die Betroffenen. Auch dieser Aspekt verändert die Beziehung zueinander. Die Rollen innerhalb der Beziehung müssen eventuell neu definiert werden, was zu Anpassungsschwierigkeiten führen kann, bei Betroffenen ebenso wie bei Angehörigen. Die neue Situation, welche die Krankheit mit sich bringt, zu akzeptieren und sich ihr anzupassen, erfordert viel Geduld und Flexibilität.
Welches sind Ihrer Erfahrung nach die grössten Herausforderungen für Angehörige von Menschen mit ALS?
Frau Ruesch: Die Angehörigen sind oft sehr allein in ihrer Not. Die Betroffenen werden nach der Diagnose oft engmaschig begleitet und können verschiedene Therapieangebote in Anspruch nehmen, wie Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie etc. Familie und Freunde sind zur Stelle und bieten, wenn irgendwie möglich, Hilfe an. Für die «Helfenden» verändert sich die Welt aber auch. Oftmals verzichten sie auf Aktivitäten und Gewohnheiten, um sich besser um die Betroffenen kümmern zu können. Nicht selten haben pflegende Angehörige ob der intensiven Pflege, die sie leisten, keine Zeit mehr für sich selbst, geben Hobbies, Vereinsaktivitäten oder Treffen mit Freunden und Bekannten auf. Den Spagat zu schaffen zwischen Helfen und Selbstfürsorge ist eine grosse Herausforderung für pflegende Angehörige. In der Regel erhalten sie ja keine Unterstützung, auch nicht in der Auseinandersetzung mit diesen Themen. Deshalb gilt das Angebot der psychologischen Begleitung nicht nur für Betroffene, sondern explizit auch für die Angehörigen.
Herr Lang: Dieser ausführlichen Antwort habe ich nicht viel hinzuzufügen. Zusammenfassend würde ich sagen, die grösste Herausforderung sind die umfassenden Aufgaben der Neuorientierung in allen Lebensbereichen.
Welche Ratschläge haben Sie für pflegende Angehörige von Menschen mit ALS?
Herr Lang: Frühzeitig Unterstützung holen im gesamten psychosozialen- und beraterischen Bereich. Auf sich selbst achten und die Selbstfürsorge als zentral wichtigen Punkt in den Fokus nehmen.
Frau Ruesch: Ich stimme zu: Gut zu sich selbst zu schauen. Immer wieder mal innehalten, sich selbst wahrnehmen, die eigenen Grenzen spüren und sich nicht für alles alleine verantwortlich fühlen. Vorhandene Entlastungsmöglichkeiten nutzen und bei Bedarf weitere zu erschliessen. Wenn pflegende Angehörige sich mit Pflege überfordern und in der Folge davon selbst instabil werden oder sogar ausfallen, ist niemandem geholfen. Selbstfürsorge ist darum ein wichtiger Aspekt bei der Pflege der Liebsten.
Welche Unterstützungsmöglichkeiten für ALS-Betroffene und deren Angehörige kennen Sie?
Frau Ruesch: Sehr wertvoll ist das Unterstützungsangebot des Vereins ALS Schweiz: Hilfsmittel, Sozialberatung, Ausflüge, Ferien, Austauschtreffen mit anderen Betroffenen und/oder Angehörigen und psychologische Unterstützung. Dann natürlich die Angebote der Spitexorganisationen, auch private, auf pflegende Angehörige spezialisierte Angebote wie Carela, Case Management (wie es zum Teil von Care Nurses in den Muskelzentren angeboten wird), Private Unterstützung von Freunden, Familie und das Angebot von Ferienbetten (z.B. Rückenwind plus in Zurzach).
Herr Lang: Carmen hat die wichtigsten Angebote von ALS Schweiz bereits angesprochen, daneben empfehle ich auch Angebotspaletten von Institutionen wie Pro Infirmis und Pro Senectute. Insbesondere im Bereich Sozialarbeit beim Verein ALS Schweiz haben wir folgende Angebote:
- Sozialversicherungen: Information und Unterstützung bei Anträgen und Prüfung der Vorbescheide; wir können Rechtsschriften/Einsprachen/Wiedererwägungsgesuche schreiben.
- Wir klären Sozialhilfeanträge und Leistungsaufträge der Sozialhilfe.
- Patientenverfügung und Vorsorgeauftrag
- Beistandschaften
- Unterstützung bei finanziellen Notlagen anhand der Kriterien unserer finanziellen Direkthilfe.
- Netzwerkarbeit und Organisation von Roundtable-Treffen zur Koordination Betroffener, Angehöriger und weiteren Leistungserbringenden
- Begleitung und Betreuung von Austauschtreffen für Betroffene und Angehörige
- Koordination und Unterstützung bei Kürzung der Leistungen, z.B. von Krankenkassen; Mitwirken bei Angeboten wie Ferienwochen, Tagesausflügen und Traueranlässen.
Vielen Dank für die Eindrücke und Erfahrungen mit ALS-Betroffenen und deren Angehörigen.
Zusammengefasst: Die intensiv umforschte, jedoch bisher unheilbare Nervenkrankheit Amyotrophe Lateralsklerose schränkt das Leben der Betroffenen drastisch ein. Die Angehörigen werden im Verlauf der Krankheit zu pflegenden Angehörigen, da ihre betroffenen Liebsten kontinuierlich an Selbstständigkeit verlieren. Pflegende Angehörige haben daher ein Recht auf Unterstützung durch verschiedene, auf diesem Gebiet tätigen Organisationen wie z.B. die Patientenhilfsorganisation Verein ALS Schweiz und die auf Angehörigenpflege spezialisierte Spitexorganisation Carela.