Leben mit Autismus: Was bedeutet das für Betroffene und Angehörige? – Interview mit Brita Schirmer
Die Anzahl Schweizerinnen und Schweizer im Autismus-Spektrum ist wegen fehlender Statistiken unbekannt. Man geht jedoch von einem Anteil von 1-3% autistischen Personen in der Weltbevölkerung aus. Autismus ist eine unsichtbare und lebenslange Entwicklungsdiversität, bei der die Betroffenen besonders in kommunikativen und sozialen Bereichen Schwierigkeiten haben und durch ihre Wahrnehmung der Welt mit Reizüberflutung überfordert werden. Für Personen, die ihre autistischen Liebsten pflegen, bedeutet das die Notwendigkeit von viel Geduld, Verständnis und Akzeptanz. Carela und die Organisation Autismus Schweiz bieten ergänzende Unterstützungs- und Beratungsmöglichkeiten. Frau Dr. Brita Schirmer, Autismus-Spezialistin mit langjähriger Erfahrung, gibt uns im Interview Auskunft über die Folgen und Möglichkeiten für Angehörige von autistischen Personen.
Frau Schirmer, können Sie uns etwas über Ihre Person, Ihre Erfahrung und Ihren persönlichen Bezug zu Autismus sagen?
Dr. Brita Schirmer: Ich bin eine diplomierte Sonderpädagogin aus Berlin, arbeite aber seit 20 Jahren nicht mehr im Schuldienst, sondern als Dozentin in Deutschland, Österreich und in der deutschsprachigen Schweiz. Ich halte Vorträge, leite Seminare, berate Einrichtungen und Familien und bin in der Ausbildung von Lehrkräften sowie Kinder- und Jugend-Psychotherapeut*innen tätig. Fast jeden Tag bin ich woanders. Ich liebe diese Abwechslung und die ganz unterschiedlichen Aufgaben. Ich habe 13 Bücher und unzählige Aufsätze zum Thema Autismus geschrieben und begleite eine Elterngruppe, die ich vor 28 Jahren gegründet habe. Und ich habe einen YouTube-Kanal mit fast 300 kurzen Filmchen: «1.000 Fragen zum Autismus».
Wie man sieht, nimmt das Thema Autismus einen breiten Raum in meinem Leben ein. Ich kam ganz zufällig dazu. Als Lehrerin musste ich mich vor über 30 Jahren mit dem Aufbau von Versorgungsstrukturen beschäftigen und habe mich dabei in das Thema verliebt. Das kam für mich überraschend. Wie es bei einer Liebe so ist, gibt es keine Gründe dafür. Sie passiert einfach. Noch erstaunlicher finde ich allerdings, dass die Faszination über die Jahrzehnte geblieben ist. Es scheint mein Lebensthema zu sein.
Was bedeutet ein Leben mit Autismus für Betroffene und deren Angehörige?
Oh, diese Antwort braucht viel Platz. Ich versuche sie kurz zu fassen: Es ist ein anstrengendes Leben mit vielen Missverständnissen und ungerechten Schuldzuweisungen. Das trifft leider auch die Eltern. Menschen im Autismus-Spektrum leben in einer Welt, die von und für eine Mehrheit gestaltet wurde, zu der sie nicht gehören. Autismus kann man nicht sehen. So wird oft unterstellt, jemand würde sich nicht bemühen, sei faul, egoistisch, arrogant oder böse. Dabei versuchen es die Menschen im Autismus-Spektrum nach besten Kräften. Den Eltern wird Erziehungsuntüchtigkeit unterstellt. Sogar mitunter von Ämtern. Das sind tragische Irrtümer.
Gibt es Aspekte, die für die pflegenden Angehörigen einer Person im Autismus-Spektrum besonders schwierig sein können?
Ja, wenn das Umfeld und die eigene Familie ungeeignete Ratschläge geben, statt zu unterstützen ("Du musst mehr/weniger/andere Regeln setzen" oder "Du musst konsequenter oder weniger konsequent sein" - Kurz: DU machst etwas falsch. DU bist das Problem.) Das macht Angehörige unsicher und weckt Schuldgefühle. Es ist nicht hilfreich.
Welche sind Ihrer Erfahrung nach die grössten Herausforderungen für pflegende Angehörige von autistischen Personen?
Bei den Behörden und Ämtern durchzusetzen, was den Menschen im Autismus-Spektrum zusteht. Es ist kraftraubend, unnötig kompliziert und nichts kommt von allein. Manche Formulierungen in den Anträgen verstehe ich auch nicht. Dann stelle ich mir immer vor, wie das jemandem gehen muss, der Schwierigkeiten mit der Sprache hat.
Die administrative Seite kann tatsächlich kompliziert sein, deswegen übernehmen wir das bei Carela für die pflegenden Angehörigen. Neben Administration, was denken Sie ist die grösste Herausforderung für die Beziehung zur autistischen Person?
Zunächst ist es mir wichtig zu betonen, dass alle Menschen im Autismus-Spektrum, die ich kenne, eine enge Beziehung zu ihren Angehörigen haben. Autismus ist nicht gleichbedeutend mit Beziehungsunfähigkeit. Es sind aber oft andere Beziehungen als man sie zu neurotypischen Kindern hat. Mögliche Belastungen für die Beziehung entstehen in Abhängigkeit vom Alter und der Symptomatik der Person. Einige Babys im Autismus-Spektrum scheinen bedürfnislos, andere schreien untröstlich. Beides verunsichert die Eltern und kann die Beziehung belasten. Es kann auch vorkommen, dass Kinder keine Freudereaktion zeigen, wenn sie ihre Eltern sehen, z.B. beim Abholen vom Kindergarten. Oder dass Kinder keinen Körperkontakt möchten und gemeinsames Spiel zulassen. Angehörige müssen die Zeichen für Zu-und Abneigung, die die Person im Autismus-Spektrum zeigt, erst zu verstehen lernen. Und sie müssen sie auch noch anderen Menschen übersetzen. Sie erschließen sich unter Umständen nicht intuitiv.
Welche Ratschläge haben Sie für pflegende Angehörige von autistischen Personen?
Suchen Sie Angehörige in ähnlichen Situationen und tauschen Sie sich aus. Das entlastet emotional und hilft, Kräfte zu sparen. Andere haben Erfahrungen bereits gemacht, von denen Sie profitieren können. Welche Therapie ist empfehlenswert? Welchen Gang kann man sich sparen? Wo und von wem gibt es wertvolle Hilfe? Wie könnte sich Ihr Kind weiter entwickeln? Gönnen Sie sich Auszeiten. Nur wer Kraft hat, kann Kraft geben. Das kann ein kurzer Urlaub allein sein, oder mit einem Geschwisterkind, die wöchentliche Chorprobe oder ein Kaffee ganz allein auf dem Balkon. Das ist nicht Luxus, sondern Notwendigkeit.
Welche Unterstützungsmöglichkeiten für Betroffene und deren Angehörige kennen Sie?
Oh, es wären ganz unterschiedliche, die denkbar sind! Sie sich hinsichtlich Ihrer Ansprüche beraten. Oft lohnt sich auch die Hinzuziehung eines Anwaltes. Dann auch die praktische Unterstützung von Freunden und Familienangehörigen: Der übernommene Einkauf, das vorbereitete Mittagessen, die stundenweise Übernahme der Beaufsichtigung. Haben Sie den Mut, danach zu fragen. Viele würden gern unterstützen, wissen aber einfach nicht wie. Und dann gibt es die Familien in ähnlichen Situationen, die Stammtische, die Selbsthilfegruppen. Hier gibt es Verständnis und praktische Tipps. Sie sind nicht allein in Ihrer Situation. Schauen Sie, wie Sie sich zur Expertin für Ihre Situation machen können. Gibt es Vorträge, Bücher oder Filme, die Ihnen helfen könnten?
Herzlichen Dank für Ihren Einsatz und für dieses Interview!
Zusammengefasst: Autismus ist eine unsichtbare Entwicklungsdiversität, bei der die Betroffenen die Welt und das Leben anders erleben als der Grossteil der Menschen auf der Welt. Weil Autismus verschiedene Intensitätsformen und -farben hat, kann der Umgang damit für pflegende Angehörige schwierig sein, und daher ist Unterstützung ein wertvoller und notwendiger Faktor für die optimale Pflege der Liebsten. Carela und die Organisation Autismus Schweiz bieten ergänzende Angebote für Personen im Autismus-Spektrum und ihre Angehörigen. Autismus Schweiz bietet beispielsweise Verständnis- und Austauschfördernde Angebote wie das «as meets» an. Frau Dr. Brita Schirmer wird in der nächsten Folge der Webinar-Reihe «as meets» am 6.Mai Fragen rund um Autismus beantworten und ihre langjährige Erfahrung teilen.