Wenn alle helfen, kann Herr Weiss noch lange zu Hause bleiben
Autorin & Fotografin: Karin Sigg, Zürcher Oberländer vom 21. September 2024
Ida Fröhlich* pflegt ihren kranken Onkel, damit der ehemalige Landwirt weiterhin auf seinem Hof leben kann. Wir durften den beiden über die Schultern blicken.
Werner Weiss* sitzt am Küchentisch und bekommt von Ida Fröhlich* eine Tasse Tee serviert. Der betagte Mann und seine Pflegerin schauen sich an und lachen herzlich. Es ist ein unbeschwertes Lachen unter Menschen, die sich vertrauen und verstehen – die zur Familie gehören.
Denn die Pflegerin ist zugleich die Nichte des bald 80-Jährigen. Seit einigen Monaten wohnt Ida Fröhlich im Bauernhaus von Werner Weiss, betreut und pflegt den Parkinson-Patienten rund um die Uhr. Für sie ist es ein Nachhausekommen: „Ich bin in diesem Haus aufgewachsen und im Dorf zur Schule gegangen“, erzählt die 47-Jährige. Nachdem die mittlerweile erwachsenen Kinder ausgeflogen waren, blieb Ida Fröhlichs Mutter bei ihrem 14 Jahre älteren Bruder in dessen Haus wohnen. Es war für sie selbstverständlich, für den alleinstehenden Werner Weiss zu sorgen, als er vor einigen Jahren an Parkinson erkrankte.
„Nach mehreren Jahren aufopfernder Betreuung überschritt meine Mutter dann die Grenze ihrer eigenen Belastbarkeit“, erzählt Fröhlich. Aktuell erholt sich die 71-Jährige in einer Reha. Die Familie musste nach einer neuen Lösung suchen.
Ida Fröhlich brauchte nicht lange zu überlegen: „Für mich ist es klar, dass man einander hilft im Kreise der Familie.“ Eines habe das andere ergeben. „Für meine aktuelle Lebenssituation passt diese Lösung optimal.“
Familie geht vor
Wertvolle Unterstützung erfahre sie dabei von der Spitex-Organisation Carela, die auch eine Niederlassung in Uster hat. Eine diplomierte Pflegefachperson steht ihr als Vertrauensperson auf Abruf mit Rat und Tat zur Seite. Fröhlich kommt aus dem Gastgewerbe und hat keine Erfahrung mit Pflegeaufgaben. Umso wichtiger sei es für sie, Fachleute im Hintergrund zu wissen, die sie bei Bedarf unterstützen und beraten. „Ich fühle mich gut aufgehoben – fachlich als auch emotional.“
Rund um die Uhr „stand-by“
Die Tage sind lang für Ida Fröhlich: Wenn ihr Onkel um etwa sieben Uhr aufsteht, ist er bei der Körperpflege auf ihre Unterstützung angewiesen. Medikamente müssen gerichtet und eingenommen, Mahlzeiten zubereitet, fast täglich das Bett frisch bezogen werden. Dazwischen fallen Haus- und Gartenarbeiten, Fahr- und Begleitdienste an.
Wenn Werner Weiss selbst und sein Bett nach dem Abendessen „püschelet“ sind, hat auch Ida Fröhlich Feierabend. Vorerst – denn bei nächtlichen Toilettengängen ist sie oft zur Stelle. Und wenn Werner „nicht zwäg“ ist, hält sie auch mal Nachtwache.
Dem ehemaligen Milchbauern fiel es nicht leicht, seine Kühe wegzugeben und den Hof jemand anderem zu überlassen. „Am meisten fehlen mir meine Tiere“, sagt er etwas traurig. In einer Ecke des Wohnzimmers steht ein Rollstuhl, draussen auf dem Sitzplatz ein Rollator. „Damit müssen wir noch etwas üben“, sagt Fröhlich mit gespielt ernster Miene. Ihr Onkel würde sich noch etwas schwertun, diese Hilfsmittel zu akzeptieren.
„Ich muss lernen, mit meinem jetzigen Zustand umzugehen“, pflichtet er bei. „Es ist kein 8-bis-5-Job“, resümiert sie und lacht unbekümmert, „bei mir ist es Charaktersache, dass ich gerne helfe.“ Dass ihr alles über den Kopf wachsen könnte, darüber macht sich die engagierte Frau (noch) keine Sorgen. Es sei nicht so viel Arbeit, „er ist ja noch recht selbständig“, lautet ihre bemerkenswert positive Aussage.
Allerdings ist sie sich bewusst, dass die grösste Herausforderung darin besteht, diese anspruchsvolle Tätigkeit auf längere Zeit zu schaffen. „Wichtig ist ein funktionierendes Netzwerk“, sagt sie.
An fixen Tagen übernimmt eine gelernte Pflegefachfrau der Spitex ihren Job, sodass Fröhlich auch freie Tage hat. Carela organisiert das Ganze immer individuell in jeder Familie und arbeitet mit einem Netzwerk an Spitex-Firmen zusammen. Auf einem Tablet führt Ida Fröhlich eine digitale Pflegedokumentation, sodass alle Parteien jederzeit auf dem neusten Stand sind.
Wie ist es denn für den knapp 80-Jährigen?
Wie ist es denn für den knapp 80-Jährigen, von seiner eigenen Nichte betreut zu werden? „Ich kenne ihre Macken und sie meine – das macht vieles einfacher“, sagt er und schaut sie an. Worauf beide wieder herzlich lachen. Auch Humor scheint das Leben etwas einfacher zu machen.
Grundpflege wird entlöhnt
Seit 2019 können sich in der Schweiz pflegende Angehörige einen Lohn auszahlen lassen, wenn sie sich von einer Spitex-Organisation anstellen lassen. Auch Ida Fröhlich erhält von Carela einen Stundenlohn für die Pflege ihres Onkels. Von Werner Weiss selbst ist sie zudem angestellt, um sich um Haus und Garten zu kümmern.
„Die Auszahlung von Lohn für pflegende Angehörige ist in der Schweiz klar geregelt“, sagt Nadine Büchler von Carela. So dürfen sie ausschliesslich für Leistungen, welche zur Grundpflege gehören, also Körperpflege und Hygiene, Toilettengang, An- und Auskleiden, Mobilität und Nahrungszuführung, vergütet werden. „Wir erklären den pflegenden Angehörigen jeweils, dass 24-Stunden-Betreuung und alle anderen, zeitaufwendigen Aufgaben leider nicht vergütet werden können.“
Stundenlöhne helfen
„Die Möglichkeit, sich für Pflegeleistungen einen Stundenlohn auszahlen zu lassen, ist für einige ein angenehmer Nebeneffekt.“ Allerdings gibt es auch viele Menschen, die ihr Arbeitspensum reduzieren müssen, um Angehörige zu pflegen. Für diese sei die finanzielle Unterstützung und die damit verbundene Altersvorsorge elementar.
Durch den Support und die Möglichkeiten, Kurse zu besuchen, könnten gemäss Büchler auch Personen ohne Pflegeerfahrung an die Aufgabe herangeführt werden. „Manchmal entdecken pflegende Angehörige dabei ihre Berufung und entscheiden sich später für eine entsprechende berufliche Neuorientierung.“
*Namen von der Redaktion geändert
Nadine Büchler ist Leiterin Kommunikation bei der Spitex-Organisation Carela. Sie rät pflegenden Angehörigen grundsätzlich, sich früh genug an eine Organisation zu wenden. „Auch wenn die Pflegesituation für die Angehörigen noch überschaubar ist, kann es helfen, fachliche und emotionale Unterstützung im Hintergrund zu wissen.“
Mit dem nötigen Know-how sei es dann wesentlich einfacher, auch herausfordernde Situationen meistern zu können. Die sogenannte „Tandem-Betreuung“, bei der sich Angehörige mit Pflegefachkräften abwechseln, lasse Angehörige immer mal wieder Abstand von der verantwortungsvollen Aufgabe nehmen.
„Wir stehen in stetem Austausch mit den pflegenden Angehörigen und ihren Liebsten“, erklärt Büchler. Regelmässige Besuche vor Ort helfen den Fachleuten dabei, die Situation jeweils einordnen und begleiten zu können. Und im schlimmsten Fall zu intervenieren, damit keine Überlastung der betreuenden Angehörigen passieren könne.