Carela in den Medien: Studenlohn: Liebe
Bericht: Maria-Elisa Schrade, Basler Zeitung vom 16. September 2025
Fotos: Kenneth Nars
Was pflegende Angehörige im Raum Basel leisten – und was diese Arbeit der Gesellschaft wert ist.
Die Angehörigenpflege ist ein Politikum. Seit pflegende Angehörige durch ein Urteil des Bundesgerichts von 2019 für ihre Arbeit entlöhnt werden können, haben zahlreiche private Spitex-Organisationen deren Anstellung als Geschäftsmodell entdeckt. Zwar ist das Gesundheitssystem angesichts der alternden Bevölkerung und des Fachkräftemangels auf die Angehörigenpflege angewiesen. Dass dabei teils Millionengewinne erzielt werden, sorgt aber immer wieder für Kritik – zumal zunehmend ausländische Anbieter auf den Markt drängen. Dabei oft vergessen werden die Menschen, die tagtäglich pflegen. Ihre Geschichten gehen in der politischen Debatte leicht unter. Ein Besuch bei Familie M.* in Schönenbuch zeigt, wie sich das Spannungsfeld zwischen Politik und Alltag anfühlt.
Agatha bellt und wedelt mit dem Schwanz. Seit vier Jahren lebt sie als Begleithund bei der Familie. Vor einem Jahr hat es schliesslich geklickt – seither sind Hündin und Tochter ein Team. Die 12-jährige Ludovica leidet am West-Syndrom, einer seltenen kindlichen Epilepsie, die zu Entwicklungsstörungen führen kann. Ludovicas Gehirn hat während der Schwangerschaft zentrale Verbindungen nicht hergestellt. Sie isst nicht selbstständig, hat nie gelernt, richtig zu kauen oder ihren Stuhlgang zu regulieren, sieht schlecht, geht sehr unsicher und ist schnell ermüdet. Nach Ludovicas Geburt merken die Eltern schnell, dass etwas nicht stimmt. Als nach acht Monaten die Diagnose gestellt wird, ist das dennoch ein Schock. «Das war der Tag, an dem ich gestorben bin», sagt ihr Vater, Massimiliano M. Die Eltern leiden an Depressionen, können sich kaum um ihren damals vierjährigen Sohn kümmern. M. sagt: «Wenn ein Familienmitglied behindert ist, ist die ganze Familie behindert.»
Pflege, Struktur und Unterstützung
An diesem Spätsommernachmittag sitzt Ludovica, von bunten Kissen gestützt, auf dem Wohnzimmerboden und schaut eine Kindersendung. Über der Kleidung ein Korsett. Das muss Ludovica seit Januar rund um die Uhr tragen, um die Folgen einer Wirbelsäulenverkrümmung zu minimieren. Gelingt das nicht, muss operiert werden. An der Wand hängt Ludovicas Tagesplan: Medikamente, Körperpflege, Ernährung, Freizeit. Auf dem Boden in Griffnähe ein Brett mit Buzzer-Knöpfen und Piktogrammen für die Grundbedürfnisse. Caroline von Juterzenka und Massimiliano M. sitzen nebenan am Esstisch. Die Pflegefachfrau ist für die neue Bedarfsabklärung da. Im Februar hat sich M. bei der privaten Spitex Carela beworben, aufmerksam wurde er durch Online-Werbung. Früher arbeitete M. als Instandhaltungsfachmann in der Chemiebranche. Seit Ludovicas Geburt pflegt er seine Tochter – ein Vollzeitjob: Wickeln, Körperpflege, Füttern, Spielen, Spazieren, Medikamente, Kochen, Putzen, Waschen. Dazwischen Therapieeinheiten. «Ludovica ist wie ein 30 Kilogramm schweres Baby, das 12 Jahre alt ist», sagt Massimiliano M. «Man kann sie nie alleine lassen.» Samantha P., die wegen des Besuchs zu Hause arbeitet, kitzelt ihre Tochter. Ludovica quietscht vergnügt. Caroline von Juterzenka hakt die letzten Punkte der Bedarfsabklärung ab: «Gab es in den letzten drei Monaten einen Sturz?» Massimiliano M. verneint. «Zahnhygiene?» Eine beginnende Karies. Ludovica kann nicht wie andere Kinder zum Zahnarzt. Jede Zahnreinigung, jede Kariesentfernung erfolgt unter Vollnarkose im Spital. «Wie ist die Treppenliftsituation?» Ludovica schläft neben den Eltern im ersten Stock. Es gibt keinen Lift. Ihr Vater trägt sie täglich die Treppe hoch und runter. Die Krankenkasse rechnet die dafür nötige Zeit nicht ab. M. könnte schliesslich theoretisch einen Lift benutzen. «Eine Hilfsmittelfirma hat sich das mal angeschaut», sagt Massimiliano M. Die Finanzierung sei noch offen.
Wenn der Alltag genau berechnet wird
In der letzten Pflegeplanung hatte Juterzenka für die Grundpflege einen Bedarf von 95 Stunden pro Monat eingegeben – das entspricht etwa 3,5 Stunden pro Tag. An Schultagen – Ludovica besucht eine Sonderschule in Münchenstein – reicht das knapp. An schulfreien Tagen wäre der Bedarf deutlich höher. Die Kasse reduzierte dennoch auf 65 Stunden. Juterzenka stellte ein Wiedererwägungsgesuch. Mit Gesuchen verbringt sie einen Grossteil ihrer Zeit. Wie häufig die Pflegefachfrau Angehörige besucht, hängt auch davon ab, wie viel Beratung die Kasse übernimmt. Bei Familie M. schaut sie in der Regel alle sechs Wochen für 30 bis 60 Minuten vorbei, gibt Tipps, überprüft das Korsett und achtet darauf, dass sich Massimiliano M. emotional und körperlich nicht überlastet. In der Debatte um die bezahlte Angehörigenpflege geht es vor allem um Qualitätssicherung und Finanzierung. Bislang fehlt eine gesetzliche Regelung für die Anstellung pflegender Angehöriger. Da bei der Abrechnung nicht zwischen regulären Spitex-Diensten und Angehörigenpflege unterschieden wird, ist das System für Missbrauch anfällig. Aktuelle Zahlen zeigen: Die Grundpflege bei privaten Spitex kostet im Schnitt mehrals doppelt so viel wie bei der öffentlichen. Der Kanton Luzern spricht inzwischen offen von Wirtschaftskriminalität, weil teils Leistungen abgerechnet würden, die so nicht stimmen können. Politische Vorstösse in Bundesbern und im Kanton Baselland fordern klare Regeln und eine einheitliche Abrechnung. Kantone wie Zug, Luzern, Thurgau, Aargau und zuletzt Zürich haben bereits Kantons- oder Gemeindebeiträge gesenkt. Auch Baselland hat Anpassungen der Restkostenfinanzierung in Aussicht gestellt. In Zürich müssen Spitex-Organisationen ab 2026 zudem offenlegen, wie viele Pflegestunden durch Angehörige geleistet wurden. Der Branchenverband Association Spitex privée Suisse (ASPS) «begrüsst» die strengeren Vorgaben und spricht sich neuerdings für eine «verbindliche Anwendung des Arbeitsgesetzes» aus. Bereits im Vorjahr hatte er sich einen eigenen Code of Conduct zur Qualitätssicherung auferlegt. Vergleicht man das kürzlich in der Region lancierte Non-Profit-Angebot von Caritas und öffentlicher Spitex mit den Angaben von Carela, sind die Konditionen für die pflegenden Angehörigen und Pflegefachpersonen weitgehend identisch. Mit einer erwarteten Ebitda-Marge – also dem Gewinn vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen – von 0 bis 3 Prozent für 2025 dürfte Carela derzeit kaum mehr als die Kosten decken. Auch das intern angestrebte Ziel von 9 Prozent ist nicht überzogen. «Wir haben eine Spitex-Bewilligung. In den Qualitätsstandards unterscheiden wir uns nicht von öffentlich-rechtlichen Organisationen», sagt Co-Geschäftsführerin und Pflegeleiterin Azra Karabegovic im Hintergrundgespräch mit dieser Zeitung. Karabegovic stört der Fokus auf die steigenden Kosten durch bezahlte Angehörigenpflege. «Man redet in der Schweiz von einem Sozialsystem, aber sobald es um pflegende Angehörige geht, ist damit Schluss», sagt sie. «Dabei steigen die Krankenkassenbeiträge seit 30 Jahren. Pflegende Angehörige machen davon nur 0,1 Prozent aus.» Je länger pflegebedürftige Menschen zu Hause bleiben, statt ins Heim zu gehen, desto mehr Kosten spare der Staat, betont Karabegovic. Bezahlte Angehörigenpflege könne durch die Verbindung informeller und professioneller Betreuung dazu beitragen.
Wer pflegt, verliert oft doppelt
Ein weiterer Punkt ist die Altersvorsorge. Wer wegen der Angehörigenpflege nicht arbeiten kann, ist im Alter oft armutsbetroffen. Familie M. ist dank der Vollzeitstelle der Mutter in der Pharmaindustrie, Hilflosenentschädigung und IV-Vollrente vergleichsweise gut abgesichert. Doch viele pflegende Angehörige sind darauf angewiesen, durch die Anstellung wenigstens einen Teil der Rentenausfälle zu kompensieren. Zurück in Schönenbuch: Massimiliano M. füttert Ludovica ihren letzten Proteinshake des Tages aus der Flasche. Draussen wird der Himmel ausgeschüttet. Samantha M. durchstöbert den Keller nach Regenjacken. Ludovica will Klavier spielen. Sie liebt Musik.
Originalbeitrag in der Basler Zeitung:
